22.6 C
Frankfurt am Main

Paralympics in Zeiten des Krieges: Wie politisch ist der Sport? | NDR.de – Sport

Paralympics in Zeiten des Krieges: Wie politisch ist der Sport? | NDR.de – Sport

Stand: 03.03.2022 17:27 Uhr

Die Athletinnen und Athleten aus Russland und Belarus dürfen bei den Paralympics in Peking nicht antreten. Ein Gespräch mit dem Sportphilosophen Gunter Gebauer.

Herr Gebauer, ist es eigentlich fair, Sportlerinnen und Sportler pauschal in so eine Art Sippenhaft für die Taten ihres Präsidenten zu nehmen?

“Sport ist viel politischer, als es die Verbände wahrhaben wollen”, sagt Gunter Gebauer.

Gunter Gebauer: Man kann ja als erstes fragen, ob es fair ist, ukrainische Athleten umzubringen. Das ist jetzt in etwas größerer Zahl passiert mit Wintersportlern, Fußballern, Tennisspielern und so weiter. Darauf muss man antworten. Das Hauptproblem ist nicht, dass man einzelne Sportler treffen will. Es gibt auch Sportler, die sich dagegen wenden, zumindest in privaten Gesprächen. Das Problem ist, dass im Sport – anders als wenn Frau Netrebko singt oder Gergiev dirigiert – die Leute gegeneinander antreten müssen. Fußballer aus Leipzig zum Beispiel sollten ursprünglich mal gegen Fußballer aus Moskau spielen und so weiter. Bei den Paralympics haben wir auch dieses Problem: Da müssen die russischen Sportler gegen andere Sportler, die mit dem Krieg nichts zu tun haben, antreten. Und diese Sportler möchten nicht gegen Russen kämpfen.

Es heißt immer, die Olympische Bewegung sei unpolitisch. Wer bei Olympischen Spielen dagegen verstößt, muss mit Sanktionen rechnen. Aber ist das nicht eine zutiefst politische Entscheidung, diese beiden Staaten auszuschließen?

Gebauer: Ja, natürlich ist sie politisch. Und die Argumentation der internationalen Verbände ist ja auch falsch. Denn diese Verbände beruhen ja, wenn sie Sport international organisieren, auf einem Grund von Frieden und Freiheit. Wenn dieser Grund nicht gegeben ist, dann kann auch kein Sport stattfinden. Wenn also ein Krieg zwischen zwei Ländern stattfindet, können die Athleten auch nicht mehr gegeneinander kämpfen. Oder dieser Kampf ist dann Krieg, und das will man auch nicht. Der Sport ist viel politischer, als es die Verbände wahrhaben wollen.

Weitere Informationen

2 Min

Mehrere Verbände, Teams und Athleten hätten mit einem Boykott der Spiele gedroht, so das Internationale Paralympische Komitee.
2 Min

Am Mittwoch hieß es noch, die Sportler aus Russland und Belarus dürfen starten – heute die Rolle rückwärts: Sie werden ausgeschlossen. Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) gibt sich nicht etwa einsichtig und reuig, sondern sagt, sie seien vor den Boykott-Drohungen nationaler Verbände in die Knie gegangen. Ist das IPC also im Grunde der Retter der Paralympics?

Gebauer: Das wäre ja ganz komisch, wenn die Retter diejenigen sind, die mit dem Krieg zufrieden sind und trotz kriegerischer Handlungen, trotz des Bombardements auf die Großstädte in der Ukraine Sport treiben wollen. Das ist doch eine widersinnige und dem Sport zutiefst widersprechende Entscheidung. Und sie mussten zu dieser Entscheidung überhaupt erst gedrängt werden, dadurch dass viele beteiligte paralympische Sportlerinnen und Sportler nicht bereit waren, gegen russische Sportlerinnen und Sportler zu kämpfen.

Was haben die Spiele überhaupt noch für einen Wert, wenn von insgesamt 650 angemeldeten Athletinnen und Athleten 83 nicht kommen? Möglicherweise können bestimmte Wettbewerbe gar nicht ausgeübt werden, oder?

Gebauer: Ja, das ist misslich, aber Olympische Spiele sind nicht nur daran zu messen, wie viele Teilnehmer sie haben. Bei den ursprünglichen Olympischen Spielen waren das, wenn es hochkommt, eine niedrige dreistellige Summe von Teilnehmern. Daraus hat sich eine große Bewegung entwickelt. Die Zahl selber ist gar nicht entscheidend. Ich finde es schon wichtig, dass Olympische Spiele stattfinden können, trotz kriegerischer Handlungen – aber nicht mit denjenigen, die Krieg führen.

Weitere Informationen

Im Ukraine-Konflikt begrüßen sich ukrainische (li.) und russische Unterhändler per Handschlag vor Gesprächen in Belarus © BelTA/AP/dpa Foto: Maxim Guchek

In der Ukraine befinden sich vor allem größere Städte unter Beschuss. Am Nachmittag begannen neue Gespräche zwischen den Kriegsparteien.
mehr

Die Paralympischen Spiele finden wieder in Peking statt, genau wie die Olympischen Spiele, die vor kurzem zu Ende gegangen sind. Damals haben wir uns gefragt: Geht das überhaupt, Olympische Spiele in einer “Diktatur” wie China? Das spielt jetzt gar keine Rolle mehr, oder?

Gebauer: Das spielt immer noch eine Rolle. Das wird ja nicht spurlos an den Beteiligten vorübergehen. Das haben wir schon bei den Olympischen Spielen der Nichtbehinderten gesehen, dass sie zwar stattgefunden haben, aber unter sehr speziellen Bedingungen, die sehr stark geprägt worden sind von der Übervorsicht und der Aufsicht der chinesischen Behörden. Die Olympischen Spiele waren sowieso eine sehr merkwürdige Angelegenheit. Da kann man kaum sagen, dass es besonders freie und besonders fröhliche Spiele waren. Ich habe das für einen großen Fehler gehalten, die Spiele nach Peking zu vergeben. Man wusste, was in China los ist, und es gab genügend Gründe, diese Spiele nicht stattfinden zu lassen. Aber die Hauptspiele haben schon stattgefunden, und jetzt werden die Behinderten im Grunde genommen bestraft, wenn man sie wieder nach Hause schickt, ohne dass sie antreten dürfen.

Bei den Paralympischen Spielen könnte es auch zu Friedensbekundungen kommen. Wie wird dann das IPC damit umgehen? Denn das sind ja politische Äußerungen, die eigentlich nicht erlaubt sind.

Gebauer: Die Grundlage der Spiele überhaupt ist Frieden, Freiheit und Völkerverständigung. Wenn das nicht gegeben ist, dann kann überhaupt kein Sport stattfinden. Wenn man also gegen Krieg protestiert und dafür manifestiert, dass Frieden herrsche, dann ist das doch eine Manifestation zugunsten der Möglichkeit, dass Olympische Spiele stattfinden können. Es ist ja nicht so, dass jeder politische Akt verboten ist – dann müsste auch der Zusammenschluss des Olympischen Komitees verboten sein, denn das ist ja auch ein politischer Akt. Genauso wie die Einreise, die Grenzkontrollen und so weiter.

Es ist so, dass die großen Verbände, insbesondere die FIFA und das IOC, beschließen, was politisch ist. Das ist für sie ein Machtmittel, denn wenn sie dieses Machtmittel anwenden, können sie beliebig Leute ausschließen, indem sie sagen, sie hätten sich politisch geäußert. Das ist der Hauptsinn dieser Politikklausel.

Das Interview führte Jürgen Deppe.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur |
Journal |
03.03.2022 | 18:00 Uhr

NDR Logo

Related articles

Recent articles