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VonSabine Hamacher
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Unicef-Experte Sebastian Sedlmayr über die Relevanz von Kinderrechten im Grundgesetz, entsprechende Pläne der Ampel-Parteien SPD, FDP und Grünen – und das Beispiel Corona-Pandemie
Herr Sedlmayr, einer der wenigen wirklich konkreten Punkte im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP ist die Absicht, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Hat Sie das überrascht?
Sowohl SPD als auch Grüne hatten dieses Vorhaben in ihr Wahlprogramm geschrieben, und auch die FDP war zum Ende der vergangenen Legislaturperiode auf dem Kurs, dass die Kinderrechte ausdrücklicher formuliert werden sollten. Deshalb hat es mich nicht überrascht.
Was genau würde die Verankerung im Grundgesetz an der Lage von Kindern verbessern?
Es kommt ganz stark auf die Formulierung des Gesetzestextes und die Begründung an. In der vergangenen Legislaturperiode waren sich die Verhandlungsparteien in den Fraktionen da nicht wirklich einig. Aus unserer Sicht sind die Kinderrechte insgesamt zu wenig bekannt in Deutschland. Wir halten es für problematisch, dass diejenigen, die wirklich sehr nah an Kindern dran sind, wie Lehrer:innen, Richter:innen, Erzieher:innen oder Sozialarbeiter:innen, in Deutschland ihren Beruf ausüben können, ohne jemals etwas von Kinderrechten gehört zu haben.
Die Kinderrechte bekämen also deutlich mehr Aufmerksamkeit.
Das ist das eine. Das andere ist: Die Interessen der Kinder müssten in der Abwägung politischer und rechtlicher Entscheidungen als ein Gesichtspunkt stets vorrangig berücksichtigt werden. So gibt es die UN-Kinderrechtskonvention vor – so wird es aber bisher nicht gemacht.
Haben Sie ein Beispiel?
Das beste Beispiel ist Corona. Welche der vielen Entscheidungen, die Bund, Länder und Kommunen getroffen haben, hat wirklich die Interessen von Kindern einbezogen? Ob Umstellung auf Digitalunterricht, Maskenpflicht an Schulen statt Luftraumfiltern und kleineren Klassen, die Schließung von Freizeitangeboten – Kinder selbst als Betroffene wurden dazu regelmäßig nicht gehört. Da ist in den vergangenen eineinhalb Jahren schon einiges schief gelaufen.
Wäre das nicht passiert, wenn die Kinderrechte schon im Grundgesetz stünden?
Die Interessen von Kindern so zu übergehen wie in der Pandemie, wäre dann langfristig nicht mehr möglich.
Zur Person und zur sache
Sebastian Sedlmayr leitet seit 2010 die politische Arbeit des UN-Kinderhilfswerks Unicef in Deutschland. Schwerpunkte sind die Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Familien- und Sozialpolitik, der Migrations- und Integrationspolitik sowie in der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe.
Im Sondierungspapier der wohl künftigen Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP heißt es wörtlich: „Wir wollen starke Kinderrechte im Grundgesetz verankern.“ Das Anliegen war schon Teil des vorigen Koalitionsvertrags; die schwarz-rote Bundesregierung gab es aber nach langer Debatte wenige Monate vor der Bundestagswahl auf.
Mit „Kindern“ sind analog zur UN-Kinderrechtskonvention alle Menschen unter 18 Jahre gemeint – es geht also auch um Jugendliche.
Die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 enthält 54 Artikel, die auf vier Grundprinzipien basieren: das Diskriminierungsverbot, das Recht auf Leben und persönliche Entwicklung, das Beteiligungsrecht und der Vorrang des Kindeswohls. Damit ist in diesem Zusammenhang das Interesse von Kindern gemeint.
In Deutschland gilt die UN-Kinderrechtskonvention seit 1992, war allerdings zunächst mit Einschränkungen belegt. Die fielen im Jahr 2010 mit der vollständigen Ratifizierung weg. sha
Was würde sich noch verbessern?
Kinderbeauftragte oder adäquate institutionelle Einrichtungen würden sich, so ist die Hoffnung, auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ausformen und zum Standard werden – so, wie es nach Artikel 3 Grundgesetz inzwischen überall Gleichstellungsbeauftragte gibt. Einige Kommunen in Deutschland haben bereits solche Anlaufstellen, die die Interessen von Kindern erfragen und vertreten können, sie sind aber nicht flächendeckend und sehr unterschiedlich aufgestellt.
In Deutschland gilt jedes fünfte Kind als arm. Wenn jetzt die Kinderrechte vorrangig oder mit anderer Aufmerksamkeit behandelt werden, muss dann die Politik ganz andere Prioritäten setzen und etwa die Kinderarmut viel entschlossener bekämpfen?
Jein. Auch da ist es wichtig, wie die Formulierung gewählt ist. Nehmen wir einmal an, die Kinderrechte würden im Grundgesetz ausdrücklich anerkannt und damit würde auch klargestellt, dass sie in allen Rechtsbereichen in Deutschland gelten. In dem Fall würde ich schon erwarten, dass soziale Hilfen sich stärker am tatsächlichen Bedarf von Kindern und Jugendlichen orientieren. Genau dieses Urteil hat das Bundesverfassungsgericht ja bereits auf dem Boden der bestehenden Gesetze gefällt, indem es 2010 entschied, dass die Hartz-IV-Sätze für Kinder nicht einfach 50 Prozent der Sätze für Erwachsene betragen dürfen.
Das war also schon ohne Kinderrechte im Grundgesetz möglich.
Ja, aber es ist damals mühsam aus verschiedenen Artikeln hergeleitet worden und hat etwa zehn Jahre gedauert. So etwas sollte künftig schneller gehen. Alle Gesetze müssten dann von vornherein kinderrechtskonform ausgestaltet werden, und Verfassungsbeschwerden in Bezug auf Kinderrechte würden überhaupt erst möglich.
Vor allem in der Union gibt es Befürchtungen, die Rechte von Eltern im Verhältnis zum Staat könnten zu sehr geschwächt werden. Finden Sie das nicht nachvollziehbar?
Ich finde es sehr nachvollziehbar, dass man diese Sorge hat. Ich glaube aber nicht, dass irgendjemand bei SPD, Grünen oder FDP das will. Es würde auch im Bundestag keine Zweidrittelmehrheit für eine solche Änderung geben, wenn nicht darauf geachtet würde, dass an dem sogenannten Dreiecksverhältnis zwischen Staat, Kindern und Eltern nicht gerüttelt wird. Wir haben viele kluge Jurist:innen, die das Gesetz so formulieren können, dass die Elternrechte in keiner Weise geschwächt und die Kinderrechte trotzdem gestärkt werden. Kinder und Eltern sitzen in einem Boot. Es geht darum, wie der Staat, aber auch zum Beispiel Unternehmen mit den Menschen und spezifisch mit den Kindern umgehen.
Manchmal sind aber die Eltern auch das Problem.
Natürlich gibt es Fälle, in denen Eltern Kinderrechte verletzen. Da ist aber auch jetzt schon das staatliche Wächteramt in Artikel 6 Grundgesetz eindeutig. Es wäre sehr wichtig, dass die Änderung jetzt sehr schnell in Angriff genommen wird. Alle Fakten liegen auf dem Tisch, und es wäre weder Eltern noch Kindern erklärbar, wenn das noch einmal jahrelang dauern würde.
Interview: Sabine Hamacher
Sebastian Sedlmayr (Foto: UNICEF/UN0504195/Chiolo)
© UNICEF/UN0504195/Chiolo