Das Jahresende als trauriger Rekord: Mehr als 19 000 neue Corona-Fälle innerhalb von 24 Stunden meldete die Schweiz am 30. Dezember, noch nie zuvor haben sich landesweit so viele Menschen auf einmal mit dem Coronavirus angesteckt. Entsprechend hoch ist die Sieben-Tage-Inzidenz: Schweizweit liegt sie im Moment bei rund 1000 Fällen pro 100 000 Einwohner. Nach Aussagen der wissenschaftlichen Corona-Taskforce, die die Regierung berät, steckt inzwischen die Omikron-Variante hinter den meisten Neuinfektionen.
Dass die Lage ernst ist, zeigte die außerplanmäßige telefonische Besprechung der sieben Regierungsmitglieder an Silvester. Von einer “besorgniserregenden” und “unsicheren” Situation war später in der Pressemitteilung die Rede, auch auf die hohe Zahl der Patientinnen und Patienten mit Covid-19 auf den Intensivstationen wies der Bundesrat hin. Laut dem Schweizer Bundesamt für Gesundheit sind momentan knapp 76 Prozent der Intensivbetten belegt, etwa die Hälfte davon mit Menschen, die an Covid erkrankt sind. Dieser Wert zählt zu den höchsten in der gesamten Pandemie, nur zum Jahresende 2020 lagen anteilsmäßig etwas mehr Covid-19-Patienten auf den Schweizer Intensivstationen – und damals gab es noch keine Impfung.
Für Schweizer Verhältnisse gelten derzeit relativ strikte Regeln
Trotzdem verzichtet die Schweizer Regierung derzeit auf neue Maßnahmen. Man habe bereits Mitte Dezember “weitgehende Einschränkungen” vorgenommen; schärfere Maßnahmen wie etwa Betriebsschließungen wolle man erst dann ergreifen, “wenn sie unumgänglich sind”.
Tatsächlich gelten seit dem 20. Dezember für Schweizer Verhältnisse relativ strikte Regeln: Zu Restaurants, Kultur- und Freizeiteinrichtungen haben nur Geimpfte und Genesene Zutritt, es gilt zusätzlich Maskenpflicht, es sei denn, man konsumiert im Sitzen. Wo Masken und Sitzen nicht möglich sind, etwa in Diskos oder bei Blasmusik-Veranstaltungen, müssen Geimpfte oder Genesene zusätzlich ein negatives Testresultat mitbringen. Zu Treffen im Familien- und Freundeskreis dürfen maximal zehn Personen kommen. Zudem gilt Home-Office-Pflicht. Die Wirkung dieser Maßnahmen könne man noch nicht genau beurteilen, schreibt der Bundesrat, auch deshalb wolle man mit Verschärfungen noch warten.
Eigentlich gäbe es Rückendeckung für strengere Regeln
Die Schweizer Regierung bleibt damit ihrer eher abwartenden, zurückhaltenden Linie in der Bekämpfung der Pandemie treu. Das ist umso bemerkenswerter, als sie eigentlich mit Rückendeckung rechnen kann, was coronabedingte Einschränkungen angeht: Ende November stimmten die Schweizer über das Covid-19-Gesetz ab, das weite Teile der Corona-Politik der Schweiz regelt, insbesondere den Einsatz des Covid-19-Zertifikats.
Maßnahmen- und Zertifikatskritiker hatten schon zum zweiten Mal eine Abstimmung erzwungen, schafften es aber nicht, das Gesetz zu kippen: Ähnlich wie bei der ersten Abstimmung im Juni sagten rund 62 Prozent ja zu dem Gesetz. Damit waren die zeitweise sehr lauten und auch gewalttätigen Gegner der Schweizer Corona-Politik überstimmt und gerieten in den vergangenen Wochen wieder in den Hintergrund. Bundesrat und Kantone können seither bei ihrer Corona-Politik davon ausgehen, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer Einschränkungen mitträgt.
Zu raschen Verschärfungen führt dieser Umstand aber offenkundig nicht. Dabei hat die Schweiz im Gegensatz zu den ebenfalls stark betroffenen Ländern Dänemark, Spanien oder Frankreich eine offene Flanke: Bislang sind nur etwa 67 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft – einer der niedrigsten Werte in Westeuropa. Auch die Booster-Kampagne für die breite Bevölkerung startete relativ spät in der Schweiz, bislang haben erst 24 Prozent der Einwohner ihre dritte Impfung erhalten. In Spanien liegt der Anteil bereits bei 28 Prozent, in Frankreich bei 33 und in Deutschland bei gut 38 Prozent.
Expertinnen und Mediziner rechnen deshalb damit, dass sich die Lage in der Schweiz bald verschlimmern wird. Die Corona-Taskforce schreibt in ihrem jüngsten Bericht, dass sich die Fallzahlen im Januar voraussichtlich pro Woche mehr als verdoppeln werden. Urs Karrer, Infektiologe am Kantonsspital Winterthur, warnt in der NZZ am Sonntag davor, Omikron zu unterschätzen. “Das Problem ist die unglaublich hohe Zahl an Neuinfektionen”, so Karrer. Auch bei niedrigen Hospitalisierungsraten könnten die Krankenhäuser 20 000 Neuinfizierte pro Tag kaum bewältigen.